Offener Brief Dean Reeds an Alexander Solshenizyn

Gefunden in X-Time info vom 23. September 2014

Übersetzung aus dem Russischen: Solveigh Calderin

(Below you find an English version)

Dean ReedVerehrter Kunstkollege Solshenizyn!

Ich, als amerikanischer Künstler, muss auf einige Ihrer Beschuldigungen, die in der kapitalistischen Presse auf der ganzen Welt veröffentlicht wurden, antworten. Nach meiner Meinung sind das verlogene Anschuldigungen, und die Völker der Welt müssen wissen, warum sie verlogen sind.

Sie stempelten die Sowjetunion als eine „tiefkranke Gesellschaft, geschlagen von Hass und Ungerechtigkeit“ ab. Sie sagen, dass die sowjetische Regierung „nicht leben kann ohne Feinde und die ganze Atmosphäre von Hass durchtränkt ist, und noch einmal durch Hass, und sie macht nicht einmal vor Rassenhass halt.“ Sie müssen von meiner Heimat sprechen, aber nicht von Ihrer! Denn gerade Amerika, und nicht die Sowjetunion, führt Kriege und schafft gespannte Verhältnisse für mögliche Kriege dadurch, um ihrer Wirtschaft die Möglichkeit zu funktionieren zu geben, aber unseren Diktatoren, dem militärisch-industriellen Komplex, noch mehr Reichtum und Macht durch das Blut des vietnamesischen Volkes, unserer eigenen amerikanischen Soldaten und aller freiheitsliebenden Völker der Erde zu erwerben. Eine kranke Gesellschaft ist bei mir in der Heimat, aber nicht bei Ihnen, Herr Solshenizyn!

Gerade Amerika, aber nicht die Sowjetunion, verwandelte sich in die gewalttätigste Gesellschaft, die man je in der SolshenizynGeschichte der Menschheit kannte. Amerika, wo die Mafia mehr ökonomische Macht besitzt, als die großen Konzerne, und wo unsere Bürger nachts nicht ohne Angst vor verbrecherischen Überfällen auf die Straße gehen können. Denn gerade in den Vereinigten Staaten, aber nicht in der Sowjetunion, wurden in der Zeit seit 1900 mehr Menschen umgebracht als die Anzahl aller amerikanischen Soldaten, die während des ersten und zweiten Weltkrieges und sogar in Korea und Vietnam umkamen! Gerade in unserer Gesellschaft ist es opportun, jeden beliebigen und jeden progressiven Führer umzubringen, der den Mut hat, die Stimme gegen einige unserer Ungerechtigkeiten zu erheben. Das ist eine kranke Gesellschaft, Herr Solshenizyn!

Weiter sprechen Sie von dem Rassenhass! In Amerika, aber nicht in der Sowjetunion, gibt es seit 200 Jahren ungestrafte Ermordungen von Negern, die als Halbsklaven gehalten werden. In Amerika, aber nicht in der Sowjetunion, schlägt die Polizei jeden beliebigen und alle Neger, die für den Schutz ihrer Rechte aufzutreten versuchen, und nimmt sie fest.

Außerdem sagen Sie, dass „die Freiheit des Wortes, die echte und vollkommene Freiheit des Wortes – die erste Bedingung für die Gesundheit einer jeden Gesellschaft und auch unserer“ ist. Versuchen Sie, diese Gedanken bei den leidenden Völker zu verbreiten, die gezwungen sind, für ihre Existenz zu kämpfen und die gegen ihren Willen unter dem Joch diktatorischer Regimes leben, die ihre Macht einzig dank der militärischen Hilfe der USA erhalten.

Erzählen Sie ihre Gedanken Menschen, deren „Gesundheit“ lediglich daraus besteht, dass die Hälfte ihrer Kinder vor der Geburt stirbt, da sie kein Geld für den Arzt haben und die ihr ganzes Leben von dem Fehlen medizinischer Versorgung betroffen sind. Erzählen Sie davon den Menschen der kapitalistischen Welt, deren „Gesundheit“ daraus besteht, ihr ganzes Leben in ständiger Angst vor Arbeitslosigkeit zu verbringen.

Erzählen Sie den amerikanischen Negern, wie oft ihnen wegen der „Gesundheit“ und der „Freiheit des Wortes“ im Prozess ihres gerechten Kampfes für Gleichberechtigung mit den Weißen geholfen wurde, wenn nach zwei Jahrhunderten der „Freiheit des Wortes auf Amerikanisch“ in meinen Regionen der USA gemeint wird, dass einen Neger umzubringen – dasselbe sei, wie einen Bären zu jagen.

Erzählen sie den Werktätigen der kapitalistischen Welt von ihren Ideen wegen der „Freiheit des Wort als erste Bedingung zur Gesundheit“, wenn wegen des Mangels an Geld ihre Söhne und Töchter nicht ihre geistigen Fähigkeiten in der Schule entwickeln können, und darum niemals nicht einmal lesen lernen können! Sie sprechen über die Freiheit des Wortes, wenn ein großer Teil der Bevölkerung des Erdballs noch über die Möglichkeit das Wort zu lesen spricht!

Nein, Herr Solshenizyn, Ihre Feststellung der Freiheit des Wortes als erste Bedingung der Gesundheit ist falsch. Die erste Bedingung besteht darin, ein Land ausreichend moralisch gesund zu machen, geistig, psychisch und physisch, darin ob seine Bürger lesen, schreiben, arbeiten und gemeinsam auf der Erde leben können.

Nein, Herr Solshenizyn, ich verstehe ihre erste Bedingung für die Gesundheit einer Gesellschaft und besonders in Ihrer Definition und Ihrem Kontext nicht. Mein Land, das bekannt ist, für seine „Freiheit des Wortes“, – dieses Land, wo die Polizei Teilnehmer friedlicher Märsche überfällt, in meinem Land sind friedliche Märsche erlaubt, und es führt zur selben Zeit den Krieg fort, der sich im Leben des vietnamesischen Volkes quälend wiederspiegelt, denn Demonstrationen ändern natürlich die Politik der Regierung nicht im geringsten. Denken Sie denn tatsächlich, der militärisch-industrielle Komplex, der mein Land und die halbe Welt lenkt, kümmert sich um die „Freiheit des Wortes“?! Ihre Regenten verstehen, dass sie und nur sie, die Macht haben, Entscheidungen zu fällen. Wirklich ist die Freiheit des Wortes in den Worten, aber nicht in den Taten.

Sie erklären auch, dass die Sowjetunion nicht im Schritt des XX. Jahrhunderts geht. Wenn das auch wahr ist, so darum, weil die Sowjetunion immer dem XX. Jahrhundert voraus ging! Wollen Sie Ihrem Volk wirklich vorschlagen, seine Rolle als Führer und Avantgarde aller progressiven Völker der Erde aufzugeben und zu unmenschlichen und grausamen Bedingungen zurückzukehren, die auf dem Rest des Erdballs herrschen, wo Ungerechtigkeit tatsächlich reichlich in der Atmosphäre unter den fast feudalen Bedingungen vieler Länder vorhanden ist? Herr Solshenizyn, in dem Artikel ist weiter gesagt, dass Sie – „ein viel leidender Schriftsteller aus der Sowjetunion“ sind. Offenbar bedeutet das, dass sie wegen der fehlenden moralischen und gesellschaftlichen Prinzipien leiden und dass Ihr Gewissen Sie in den stillen Nachtstunden quält, wenn sie mit sich selbst allein sind.

Es ist wahr, dass die Sowjetunion ihre eigenen Ungerechtigkeiten und Unzulänglichkeiten hat, aber alles in der Welt ist doch relativ. Im Prinzip und in der Sache strebt Ihre Gesellschaft zum Erschaffen einer wirklich gesunden und gerechten Gesellschaft. Die Prinzipien, nach denen Ihre Gesellschaft aufgebaut ist, sind gesund, sauber und gerecht, während die Prinzipien, auf denen unsere Gesellschaft aufgebaut ist, grausam, egoistisch und ungerecht sind. Offensichtlich kann es im Leben Fehler und einige Ungerechtigkeiten geben, aber es ist sicher, dass eine Gesellschaft, die auf einer gerechten Grundlage erbaut ist, größere Perspektiven zu einer gerechten Gesellschaft zu kommen hat als die Gesellschaft, die auf Ungerechtigkeit und der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen aufbaut. Gerade Ihr Land strebt dazu, progressive Schritte im Namen der Menschheit zu unternehmen und wenn sie in irgendetwas unvollkommen ist und manchmal stolpert, so sollten wir nicht aufgrund dieser Unzulänglichkeiten das ganze System verurteilen, sondern wir müssen sie für den Mut und das Streben, neue Wege zu beschreiten, begrüßen.

Aufrichtig, Ihr

Dean Reed

„Ogonjok“, Nr. 5 (2274), 1971
„Literaturnaja Gaseta“, Nr. 5, 1971

English version, found on www.deanreed.de

Open letter of Dean Reed to Aleksandr Solzhenitsyn

Dear colleague by art Aleksandr Isayevich!

I, as an American artist, must reply on some of your charges, published by capitalist press all over the world. In my opinion, they are false charges and the peoples of world must know, why they false. You stamped the USSR as deeply sick society, struck by hatred and injustice. You say that the Soviet government could not live without the enemies, and entire atmosphere in the hatred, which does not stop even before the racial hatred. You probably speak about my native land, but not about yours. Indeed precisely America, but not the USSR, it wages wars and creates the stressed situation of possible war, in order to give the possibility to its economy to act, but to our dictators and military-industry (VPK) to acquire still more wealth and power on the blood of Vietnamese people, our own soldiers and all freedom-loving peoples of world. Sick society is at my native land, but not at yours, Mr. Solzhenitsyn!

Specifically, the USA, but not the USSR, became the most violent society, which the history ever knew. America, where the Mafia has more economic power, than even the largest corporations, and where our citizens cannot walk at night along the streets without the fear to undergo the attack of criminals. Indeed precisely in the USA, but not in the USSR, their fellow citizens killed in the period with 1900 more people, than it perished American soldiers in both World Wars, and in Korea and Vietnam! Specifically, our society is considered convenient to kill any progressive leader, who finds courage to raise voice against some our injustices. That is what a sick society is, Mr. Solzhenitsyn!

Further you speak about the racial hatred. In the USA, but not in the USSR for a period of two centuries remain unpunished the murders of the Negroes, whom they hold in half-slavery. In the USA, but not in the USSR the police beats and arrests any Negro, who attempts to appear in defense of his rights.

Then you say that the freedom of speech, the honest and complete freedom of speech – here is the first condition of the health of any society and ours also. Attempt to extend these thoughts among the suffering peoples, forced to fight for existence and to live in spite of your will under the oppression of dictators, who are held in authority only because of the aid of the USA.

Tell about your thoughts to people, whose health consists only in the fact that half of their children dies during the delivery, since they do not have money for the doctor, and they suffer entire life without the medical service.

Tell about this to people of capitalist world, whose health lies in the fact that they spend entire life in the fear of unemployment. Tell to American Negroes, as much them helped in fact the freedom of speech in the process of their rightful fight for the equality of rights with the white, when after two centuries of the freedom of speech in an American-like kind in many regions of the USA they think that to kill Negro is like to go to bear hunting!

Tell to the workers of capitalist world about your ideas about the freedom of speech as of the first condition of health, if because of the shortage of money their children cannot develop their mental abilities in the school, and therefore they will never learn to read! You speak about the freedom of speech, while the major part of the population of the world is still speaking about the opportunity of learning to read! No, Mr. Solzhenitsyn, your definition of the freedom of speech as the first condition of the health of society is faulty. The first condition consists in making the country of healthy mentally, moral, spiritually and physically, so that its citizens would read, write, work and to live together in peace.

No, Mr. Solzhenitsyn, I do not admit your first condition of the health of society and especially in your definition and context. My country, known for its freedom of speech – this is a country, where the police will attack participants of peaceful marches. In my country peaceful marches are permitted, and so far war continues in the same time, since demonstrations, evidently, do not change at all the policy of government. Do you really think that VPK, which rules in my country and in a half of the world cares about the freedom of speech? Its rulers realize, that they and only they possess ability to make decisions. Truly the freedom of speech is in the words, but not in reality.

You stated that the USSR does not march in step with XX by century. If this is true then this is because the USSR goes in front by one half step of XX century! Do you really propose to your people to abandon the role of a leader and advanced guard and to return to the inhuman and cruel conditions existing in the remaining part of the world, where the injustice truly abounds in the atmosphere of almost feudal conditions of many countries? Mr. Solzhenitsyn, in the article it is also said, what you – long-suffering writer from the Soviet Union. Apparently, this means that you much suffer because of the absence of moral and social principles, and that your conscience torments you during quiet night hours, when you remain one by one with yourself.

It is correct, that the USSR has its own injustices and deficiencies, but indeed everything in the world is relative. In principle and in reality your society is trying to build really healthy and fair society. The principles, on which is built your society, are healthy, clear and fair, while the principles of my society are cruel, mercenary (selfish) and unfair. Obviously, there can happen some mistakes and injustices in life; however, there is no doubt that a society built on fair principles has more prospects to come to fair society, than that, which is built on injustice and exploitation of a man by man. Society and government of my country are behind the time, because their sole purpose consists in to keep a status quo in the entire world. Specifically your country attempts to make progressive steps into the name of humanity, and if it is not perfect sometimes and stumbles at times, then we must not condemn entire system for these defects, but must greet it for its courage and striving for laying new ways.

Sincerely yours,

Dean Reed

4 Responses to Offener Brief Dean Reeds an Alexander Solshenizyn

  1. Bernd says:

    Ach hier kann man auch kommentieren?! Schön 🙂 Wie lang ist das jetzt her? Deen war auch zu Gast in unseren Gefilden, damals. Da war ich allerdings noch ziemlich frisch im Leben 😉 Doch Eines hat sich nicht geändert – die Strategie der WeltVerbrecher 😦

  2. Pingback: blognetnews » Offener Brief Dean Reeds an Alexander Solshenizyn

  3. Hat dies auf Walter Friedmann rebloggt und kommentierte:
    Dean Reed an Alexander Solshenizyn

  4. decodoesit says:

    Hat dies auf hummusapiensus rebloggt und kommentierte:
    Eine Stimme aus der Vergangenheit… aktueller denn je!